S. 51 – 65
Vor dem Eingang zu den Gärten lag eine Passierkontrolle.
Kei hob seinen Daumen und aktivierte den Sensor. »Wir haben eine Zugangsberechtigung für den ganzen Tag. Die Lebensberatung ist ein Bote.«
»Ein Kurier?«, riet Anka.
»Ein direkter Vermittler. Es ist ein künstlicher Mensch. Ein Computerbot, der in eine Menschmaschine eingesetzt wurde. Der Lebensplan ist eine sehr private Sache. Das geht nur dich und das System was an. Jedenfalls, die Boten warten auf dich, wir müssen uns nicht beeilen. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und uns umsehen. Du wirst sehen, es lohnt sich.«
Sie schritten durch einen langen Gang. Als sich die Schleusentüren öffneten, stockte Anka der Atem. Sie blickte auf ein weites Tal hügeliger Wiesen. Bunte Blumen und verwachsene Bäume standen wie gemalt im grünen Gras, das zu einem Picknick einlud. Anka sah eine Schafherde rund um einen Weiher grasen. Die Wolle der Schafe wirkte so flauschig und weiß, als wären Wolken auf die Erde gefallen. Im Zentrum lag ein Dorf.
»Die Lebensberatung ist in der Schenke.« Keis Finger wies auf die Fachwerkhäuser. »Aber wir können auch in den Zeppelin steigen und einen Rundflug machen. Was meinst du?«
Anka wollte diesen Ort am liebsten nie wieder verlassen. Die Gärten boten eine Weitsicht, die sie gefangen nahm. Über ihnen wölbte sich eine Glaskuppel, sie war so gewaltig, dass ein Ende nicht auszumachen war. Anka sah blauen Himmel und ein fernes Glitzern, das von den Glasfacetten stammte. Jetzt verstand sie, warum die Häuser dicht an dicht standen. Die Gärten auf dem Dach bildeten ein gigantisches Gewächshaus. Nur hier und dort unterbrochen von sanft geschwungenen Hängebrücken, über die man von einem Teil zum nächsten wechselte. Kei lotste Anka über malerische Steinstufen, auf denen sich ein Rudel bunter Katzen sonnte und blieb vor einem Mast stehen.
»Hier ist ein Plan.« Kei schnalzte mit der Zunge. Der Mast streckte sich und entrollte eine Fahne. Die Fahne hing steif in der Luft und färbte sich mit Linien.
Anka erkannte, dass es eine Karte war.
»Wir befinden uns beim Dörfchen Honigtau.« Kei schnippte mit dem Finger und ein rotes X leuchtete auf. »Dort geht es in die englischen Gärten, da in die Mandschurei, danach kommen die goldene Wüste, der Regenbogenwald, die Hundertseen, Schneeland, Schlaraffia, die Fun-Thrill-Kill-Zone, das Amphitheater und das Aquarium. Über die Gärten fliegen Zeppeline. Da vorne ist eine Haltestelle. Was machst du gerne?«, wollte er wissen.
»Schwimmen.« Anka musterte ihren Sozialarbeiter. Seine schlaksige Gestalt sah nicht sehr sportlich aus.
»Fliegen wir zum Aquarium«, schlug Kei vor. »Willst du den langen oder den kurzen Rundflug?«
»Den langen, bitte.«
Den Zeppelin erreichten sie über einen tropfsteinförmigen Turm, an dem Plattformen auf und ab schwebten. Nachdem sie im schneeweißen Zeppelin auf einer der gepolsterten Sitzschalen Platz genommen hatten, ertönte ein Signal und der Boden wurde durchsichtig. Der gasbefüllte Ballon glitt rasch über das beschauliche Dörfchen Honigtau. Kühe, Pferde, Gänse und munter wirbelnde Wassermühlen belebten die Szenerie, ganz so als hätte jemand sie verteilt, um das Auge zu erfreuen. Auch die zahlreich auf den Kieswegen lustwandelnden Passanten ergötzten sich an dem Anblick.
»Die Gärten sind ein beliebtes Ausflugsziel«, erklärte Kei.
Bald formten sich die idyllischen Wiesen zu gepflegten Parkanlagen. Hecken und Blumenbeete bildeten streng geometrische Muster auf akkurat geschnittenem englischen Rasen. In blütenförmigen Pavillons wurde Tee und Gebäck serviert. Marmorfische bildeten ein kompliziertes Wasserspiel. Rund um den Springbrunnen standen Leute und warfen blinkende Kugeln auf die darin paddelnden Entenküken. Immer wenn eines getroffen wurde, spuckten die Fischköpfe goldene Glitterfontänen. Eine hohe Ligusterhecke bildete ein Labyrinth, größer als ein Fußballstadion. Die grüne Hecke zog sich meilenweit über die Landschaft. Von oben sah Anka Kinder auf fliegenden Rollern durch die Gänge flitzen, auf der Suche nach dem Ausgang und auf der Flucht vor kleinen Geistern, die aussahen, als bestünden sie aus Zuckerwatte.
Kei wies auf den Irrgarten. »Der Geistergarten, Mann, hab ich den früher geliebt. Schau, dort ist das Haus von Mrs. Pacman. Da gibt es Eis.«
Auf einem runden Platz in der Mitte des Labyrinths thronte ein gewaltiger Baum mit Rolltreppen, Leitern, Kletterseilen und Rutschen. Ganz oben unter den Gipfeln befand sich eine Plattform. Darauf stand ein schiefes, mehr schlecht als recht zusammengezimmertes Häuschen. Der Zeppelin flog dicht darüber hinweg und Anka konnte sehen, dass der Rand der Plattform mit Wasserhähnen jeder Art bestückt war. Es gab dicke goldene, winzige mit Flügelmutter, chromfarbene, eckige, rostige, manche hatten Fisch- oder Entenköpfe, andere waren mit Juwelen besetzt. Eine Gruppe Kinder rannte zum Haus und riss an der Fassade. Dann hielten sie die Bruchstücke unter einen der Hähne.
»Daraus zapft man Eiscreme«, lächelte Kei versonnen. »Jeder Hahn eine andere Sorte.«
Ein verführerischer Duft nach frischen Waffeln stieg in Ankas Nase.
»Da kommt Mrs. Pacman mit den Waffeln.«
Eine große weiße Kugel mit blonden Locken und einem Kussmund rollte zur Tür des Häuschens heraus. Sie trug eine Schürze und ein großes Ofenblech. Fasziniert beobachtete Anka, wie sie anfing, ihr Haus mit frischen Waffeln zu flicken. Ein Kind riss die Waffeln direkt wieder heraus. »Ziemlich deprimierend für Frau Pacman, oder nicht?«
»Wenn die Kinder ihr Haus nicht aufessen würden, hätte sie keinen Grund zu backen. Sie ist ein mobiler Backautomat.«
Sie ließen den Irrgarten hinter sich und flogen über eine Wüste. Goldener Sand schimmerte unter ihnen wie ein Meer.
Kei lenkte Ankas Aufmerksamkeit auf dunkle Rauchwolken hinter einer Sanddüne. »Dort hinten siehst du die Schornsteine von Desert City.«
»Was kann man da tun?«
»Cowboy und Indianer spielen. Du kannst reiten, jagen, nach Gold schürfen, mit der Dampflok fahren, dem Sheriff helfen oder ein Desperado sein. Mit Leila zusammen habe ich mal den Zug überfallen.« Keis Miene war ausdrucklos, seine Augen lagen hinter der blauen Telebrille verborgen. »Im Safe hatte ich für sie einen Diamantring deponiert. Sie hat ihn mir nach der Trennung zurückgegeben.«
Von Ferne ertönten Gewehrschüsse und Kanonendonner.
»Da kommt die Kavallerie. Einmal in der Stunde gibt es eine Massenschlacht und eine Bisonherde trampelt alles nieder.«
»Ist das nicht gefährlich?«, wunderte sich Anka.
»Na ja, es tut schon weh, aber du kannst dich ja zusammenflicken lassen. Hundert Jahre sind dir garantiert, sagte ich doch. Wenn du nach rechts schaust, siehst du den Regenbogenwald.«
Anka erblickte hohe schlanke Bäume mit einer perlmuttähnlich schillernden Rinde. Ihre langen glänzenden Blätter wiegten sich sanft im Wind.
»Hierhin gehen die Ästheten. Die Vögel aus den Wäldern singen fantastische Arien und tanzen dazu Ballett. Siehst du dort die Flamencos?«, Kei zeigte auf eine Reihe leuchtend rot-weißer Vögel, die anmutig auf und ab tippelten und mit ihren bauschigen Federn wirbelten. »Hinter den Bäumen liegt Schlaraffia. Das ist das Schlemmerland. Nach einer Stunde da drin kannst du eine Woche lang nur ungewürzte Vorratsbeutel essen. Um reinzukommen, muss man sich durch Grießbrei wühlen und baden kann man nur in Milch. Ist also eher was für die wirklich Verfressenen. Möchtest du dich wie ein Schwein in Schokoladenpudding suhlen? Dort bist du richtig. Gleich fliegen wir über die Fun-Thrill-Kill-Zone. Da wird es spannend.«
Unter ihnen lagen Trümmer und Ruinen. Ranken wucherten über eingestürzte Mauern. Bäume und Sträucher wuchsen aus zerfallenen Bauwerken.
»Hier, du erkennst es am grünen Gras, ist der Funbereich. Geeignet, um Parcours zu spielen, die großen Spinnennetze sind Trampoline. Du kannst an Jet-Pack-Rennen teilnehmen und in den Ruinen nach Schätzen graben. Dort wo das Gras verbrannt ist, ist die Thrill-Zone. Da sind die Untoten.«
Anka sah einige Zombies über eine Lichtung schlurfen. Eine Gruppe hatte sich in einem ausgebrannten Schulbus verschanzt und zielte mit Pfeil und Bogen.
»Ihr habt Zombies?«
»Die sind nicht echt, also eigentlich sind sie schon echt. Reanimierte Hundertjährige, die das System als Erschreckungseinheit umfunktioniert hat.«
»Was tun sie?«
»Sie beißen dich. Aber das ist nicht ansteckend, du bekommst nur einen juckenden Hautausschlag. Gefährlich wird es erst in der Kill-Zone.«
Der Zeppelin flog über eine ausgebombte Stadt.
Soldaten in schwarzer Rüstung rückten durch eine schmale Gasse vor. Ein weißer Soldat stürzte verwundet von einer Mauer.
»Aua«, zischte Kei. »Deine Rüstung schützt dich vor den Treffern der Laserkanonen. Wenn du aber zu viel abbekommst, kriegst du einen Stromschlag und musst von einer Drohne reanimiert werden. In der Schule hatte ich einen Freund, der war mal einen Monat lang jeden Tag in der Kill-Zone. Danach musste er in den kalten Entzug, weil er nur noch durch die Schulflure robbte und sich hinter jede Ecke kauerte. Bleibende Schäden sind allerdings selten. Anders als bei den Gladiatorenkämpfen. Dafür verdienen die auch ordentlich an Preisgeld. Im Prestigebereich sieht man viele ehemalige Gladiatoren. Gut, dem einen fehlt ein Auge, dem anderen ein Ohr. Aber insgesamt haben sie es gut getroffen.«
Anka seufzte, irgendwie war sie nicht überrascht.
»Da vorne ist der Zugang zum Aquarium.« Abrupt stoppte der Zeppelin. »Wir müssen aussteigen«, befahl Kei. »Hier beginnt der Versorgungskanal. Über ihn fahren die Containerschiffe hinter den Vorhang zu den Fundis.«
Anka stand auf der Zeppelinplattform und blickte auf eine weite, grau glänzende Ebene. Es war Wasser. »Das ist ein Kanal? Es sieht aus wie ein Meer.«
»Die Containerschiffe sind sehr breit, da fährt gerade eines.«
Das, was Anka zuerst für ein weiteres Hochhaus gehalten hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als ein gewaltiges Schiff. Es bewegte sich. Langsam zog der Koloss an ihnen vorbei, während der Fahrtwind ihre Haare zerzauste.
Eine Möwe neben ihnen schrie vor Freude über eine weggeworfene Pommes.
»Ich mag das Meer«, sagte Kei leise.
Anka wunderte sich über den wehmütigen Ausdruck in seiner Stimme.
Kei lotste sie zu einer gläsernen Rolltreppe, die direkt ins Wasser führte. »Unter dem Kanal liegt das eigentliche Aquarium.«
»Wir gehen tauchen?«
»Jepp, wir gehen tauchen. Aber zuerst musst du ein Programm auswählen. Ich kann mich an dein Programm anschließen. Wenn du magst, erleben wir es gemeinsam. Du gehst in eine der Kabinen«, Kei wies auf eine lange Reihe zu seiner Linken, »und wählst aus. Danach ziehst du dich um. Wir sehen uns drinnen.«
Anka betrat eine Umkleidekabine und nahm unsicher auf der Sitzschale Platz. Vor ihr befand sich ein Display. Auf dem Screen erschien ein Zeichentrickpirat mit rotem Kopftuch, neckischem Spitzbart und Goldringen in den verfilzten Haaren. »Guten Tag«, aus der Decke erklang eine Stimme sanft wie Wasserplätschern. »Wir kennen uns noch nicht.«
»Bist du das System?«, fragte Anka überrascht.
»Ja, ich bin das System.«
»Bist du immer hier?«
»Ich bin überall«, säuselte es. »Bei anderen erkenne ich, was sie sich wünschen. Ich kann in ihnen lesen, doch du bist für mich ein verschlossenes Buch. Daher habe ich Bilder aus deiner Zeit extrapoliert, die jeweils für ein Erleben stehen. Du siehst sie dir an und wählst eines aus.«
Auf dem Bildschirm erschien ein Stapel Karten. Eine unsichtbare Hand drehte die erste Karte um. Es war eine kurze Filmszene aus Findet Nemo. Die zweite Karte zeigte Der weiße Hai, die dritte Die schönsten Korallenriffe, die vierte Titanic, die fünfte Käpt’n Jack Sparrow’s Piratenschule. Nach zehn weiteren Vorschlägen stoppte es plötzlich.
»Du musst den Neoprenanzug anziehen«, sagte das System.
»Ich habe doch noch gar nicht gewählt«, antwortete Anka überrascht.
»Doch, das hast du.« Das System schwieg.
Anka zog verwirrt den silberglänzenden Taucheranzug über, der neben ihr in einem Spind hing. Er war elastisch wie eine Stumpfhose und ließ sich leicht überstreifen. Dazu gab es eine passende Maske, in die ein Atemgerät integriert war.
Kei wartet vor der Wasserschleuse. Er trug wie sie einen Taucheranzug, seiner war metallisch blau. »Der Sauerstoff kommt über Luftblasen, die dem Wasser zugesetzt werden und die der Anzug herausfiltert. Das Aquarium ist vom offenen Meer abgetrennt, es ist vollkommen ungefährlich.«
»So wie die Kill-Zone?«, fragte Anka misstrauisch.
»Nein, höchstens so wie die Thrill-Zone.« Kei lächelte sie aufmunternd an.
»Das klingt wenig vertrauenerweckend.«
»Was hast du gewählt?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht, ich habe gar nichts gesagt.«
»Musstest du auch nicht. Das System misst deine Augenbewegungen und je nach Fixation und Sakkaden erkennt es die Reaktion.«
Anka bekam ein flaues Gefühl im Magen. Sobald sie durch den gläsernen Tunnel ins Meer tauchte, verlor sich ihre Befürchtung und sie war erneut fasziniert von der Welt unter der Wasseroberfläche. Sie tauchte gerade durch einen bunten Fischschwarm, als sich der Himmel über ihr verdunkelte. Anka blickte nach oben. Ein gigantischer Schatten schwamm über ihr. Sie winkte Kei hektisch zu, doch der stupste seelenruhig eine Seeanemone an. Der Schatten kam näher. Es war ein Hai. Ein kolossaler weißer Hai, der mit weit offenem Maul auf sie zuraste wie ein Schnellzug. Sie drehte sich um und kraulte um ihr Leben. Kei versuchte sie einzuholen, aber sie war schneller. Der Hai war es leider auch. Anka konnte die Präsenz des Raubfisches hinter sich fühlen. Ihre Muskeln brannten und ihr Herz raste. Vor ihr tauchte eine Reihe Schornsteine auf, die Luftblasen in das Wasser pusteten. Hinter einem der Schornsteine versteckt, blieb Anka stehen und spähte vorsichtig hervor. Der Hai war ganz nah und suchte. Kei paddelte näher und tätschelte ihm die Rückenflosse. Plötzlich riss der Hai das Maul auf, zeigte seine beeindruckenden Zähne und fraß ihn. Anka konnte die einzelnen Reihen messerscharfer Zähne sehen. Ein Strudel Blut quoll zwischen ihnen hervor und umhüllte den Hai mit einer rosa Wolke. Anka sah sich panisch um. Unter einem der Schornsteine war eine kleine Höhle. Wenn sie sich da hinein quetschen könnte. Sie musste ihre Beine zusammenfalten und die Arme um den Kopf legen, aber es passte. Anka saß in einer winzigen Höhle und fühlte sich sicher. Der Hai biss in den Schornstein. Die Angst, die Anka beim Anblick des Riesenmauls verspürte, verwies ihre Platzangst auf die billigen Plätze. Sie schloss die Augen und ballte die Fäuste. »Nicht in Panik geraten, atmen, nicht in Panik geraten, atmen.« Dies wurde ihr Mantra für eine gefühlte Ewigkeit. Dann tippte ihr jemand auf die Schulter.
Es war Kei. »Ich habe das Programm beenden lassen«, knisterte er über sein Interface. »Komm heraus.«
Als sie draußen waren, ließ Anka sich auf eine Bank fallen.
Kei setzte sich neben sie. »Ich wollte dir die ganze Zeit zeigen, dass der Hai nicht echt ist. Er war ein Hologramm.«
Anka wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und das Blut?«
»Es ist eben ein realistisches Hologramm. Scheinbar dachte das System, dass dir so ein Nervenkitzel gefällt.«
»Hat es nicht.«
»Den Eindruck hatte ich auch.«
»Du hattest recht.« Anka holte tief Luft.
»Mit was?«, fragte Kei.
»Das System spielt nicht fair.«
Kei warf ihr einen warnenden Blick zu.
Anka verstand, Tabu.
»Komm gehen wir was essen«, schlug er vor.
»Was möchtest du als Nächstes sehen?« Kei zupfte an einer Kugel aus schwarzen Spaghetti. Sie saßen in einem Fischrestaurant am Rande des Kais.
Ankas Papageienfisch schmeckte deutlich besser als der gestrige Fisch aus der Kanalisation. »Mein Bedarf an Unterhaltung ist für heute gedeckt. Können wir nicht gehen?«
»Du musst vorher noch zur Lebensberatung«, schmatzte Kei.
»Was erwartet mich da?«
»Das System stellt dir einige Fragen und erstellt einen passenden Plan für deine Zukunft.«
»Meine Zukunft?«, stöhnte Anka. »Daran will ich im Moment am wenigsten denken. Ich wusste schon vor achtzig Jahren nicht, was ich tun soll, woher soll ich es jetzt wissen?«
»Das System hilft dir dabei. Es sieht, was du kannst und erkennt, was du willst. Was wolltest du früher werden?«
»Zauberer«, gestand Anka. »Leider wurde nichts daraus. Aber ich kann immer noch eine Münze verschwinden lassen.«
»Schade, dass es keine Münzen mehr gibt«, kommentierte Kei. »Du hast studiert?«
»Informatik, was sollte man 2020 schon studieren? Eigentlich habe ich auch nicht studiert, aber ich habe programmiert.«
»Für Credits?«, fragte Kei neugierig.
»Nein, für was Besseres.«
»Das wäre?«
Anka starrte auf ihren leeren Teller. »Du erzählst mir nichts, ich erzähl dir nichts«, murmelte sie, »so läuft das doch.«
Kei lächelte ihr über die Brillengläser zu. »Also was hast du programmiert?«
»Sachen halt.«
»Illegale Sachen auch?«
Anka zuckte mit den Schultern.
Kei schwieg. Doch nicht lange. »Ich frage mich, wie deine Welt so war, so ganz allgemein. In den Filmen wirkt die Zeit auf mich so lustig. Diese kleinen Autos mit jeweils einem Menschen darin und alle stehen im Stau und hupen. Niedliche Häuser mit nur einem Stockwerk, ulkige Geräte, einen Föhn, den man in die Hand nimmt. Ins Telefon musste man hineinsprechen. Im Museum gibt es eine Ausstellung für frühe Systemzeit. Wenn du möchtest, gehen wir hin«, bot Kei an.
Anka war verärgert. »Meine Welt war nicht so beschaulich, wie du sie dir ausmalst. Krieg lag bereits in der Luft. So wie ein Feuer in weiter Ferne roch man Rauchschwaden. Vielerorts zündelte es und mancherorts brannte es bereits. Es gab einige Heilsbringer. Wer die Gunst des Volkes besaß, hatte Macht, und wer die Industrie besaß, hatte Kapital. Am besten war, man hatte beides. Schon damals wurden wir vermessen. Datenprofile gab es zuhauf, sie suchten die besten Urlaubsorte, halfen beim Autokauf, beim Finden von Freunden oder der großen Liebe. Dabei grabschten sich die Marktforscher jeden deiner digitalen Fußabdrücke. Was ist deine Lieblingsbiermarke? Welches Auto gefällt dir? Schau, deine Lieblingsband hat ein eigenes Parfum. Dieses Müsli ist perfekt auf dich abgestimmt. Die Lampe findest du schön? Du hast sie angeklickt. Warte, ich zeige sie dir noch mal und noch mal und noch mal. Egal wo du hingehst, ich bin schon da und warte. Werbung und Manipulation wurden immer aggressiver und persönlicher. Als würdest du jemandem ein Lächeln schenken und dieser Typ würde von da an jeden Tag vor deiner Haustür herumlungern, immer in demselben zerknitterten Anzug mit Schweißflecken unter den Achseln und einer Plastikrose in der Hand. Er würde anklingeln, anrufen, dich auf der Straße ansprechen.«
»Klingt nach Stalking«, lachte Kei.
»Nannte sich Marketing«, sagte Anka, »aber man konnte es ganz gut austricksen. Die Programme waren strunzdumm.«
»Das waren die allerersten Fingerübungen des Systems«, klärte Kei sie auf. »So wie die Einzeller nicht wussten, dass aus ihnen eines Tages Symphonien schreibende Individuen werden.«
»Woher weißt du, dass Einzeller keine Symphonien schreiben?«, warf Anka ein.
»Wenn sie es könnten, dann wären diese sicherlich sehr eintönig«, lästerte Kei.
»Schreibt das System eure Symphonien?«, fragte Anka herausfordernd.
»Es lässt sie schreiben. Opern für die einen, Ragasta für die anderen, zuckersüße Girlboy-Bands, Krawallerie, Cyberjazz. Es gibt passende Musik für jede Farbe und für jedes Alter.«
»Was ist deine?«, wollte Anka wissen.
»Spacerock«, Kei grinste sie an, »und ja, es gefällt mir. Komm, ich bring dich zur Beratungsstelle.«
Die Lebensberatung befand sich tatsächlich im Wirtshaus mitten in Honigtau. Anka und Kei betraten das mehrstöckige Fachwerkhaus. Das Innere war verwinkelt. Überall gab es gemütliche Sitznischen, Eckbänke und Separees. Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer. Es war urgemütlich. An fast jedem Tisch saß jemand und wartete. An einigen Tischen waren jeweils zwei Personen in eine rege Unterhaltung vertieft. Scheinbar gab es nur wenige Berater.
»Das kann dauern.« Anka deutete auf die Wartenden.
»Wieso, ist doch alles frei?« Kei zeigte auf die Tische. »Dort sitzen die Boten und warten, dass du sie aktivierst.«
Anka betrachtete die an den Tischen Sitzenden genauer. Ein kugelrunder Mann verscheuchte gerade eine Fliege, die an seinem Pflaumenkuchen naschte. Eine ältere Dame strickte.
»Sie wirken vollkommen natürlich«, sagte Anka verunsichert.
»Das sind nur eingespeicherte Subroutinen. Der Mann verscheucht schon seit Jahren immer die gleiche Fliege. Du suchst dir einfach den aus, der dich am meisten anspricht, und beginnst ein Gespräch.«
»Was machst du?«
»Ich muss auch zu einer Unterhaltung.« Kei zeigte auf eine dralle Blondine in einem Dirndl.
Anka musste schmunzeln. Sie sah sich um. Welchen Boten sollte sie nehmen? Sagte ihre Wahl bereits etwas über sie aus? Sie überlegte. Was würde das System von ihr erwarten? Mit einem Mal erhaschten ihre Augenwinkel etwas Vertrautes. Anka kniff die Augen zusammen. Tatsächlich – an einem der Tische saß ihre frühere Deutschlehrerin. Natürlich war sie es nicht wirklich, doch sie sah ihr verblüffend ähnlich. Es gibt Menschentypen, die sind universell, fand Anka und musterte das frettchenartige Antlitz mit den stechenden Augen. Die straff zu einem Knoten zusammengerollten Haare waren von demselben Erdbraun wie die Haut. Alle Schüler hassten Ursula Satori und sie trug diesen Hass stolz in ihrem verkniffenen Gesicht spazieren. Genau dieses Gesicht lächelte Anka jetzt aufmunternd zu.
Ach was soll’s, sie ließ sich auf den Stuhl plumpsen. »Hallo«, plauderte der Bote mit der sanften Stimme des Systems. »Hat dir mein Hai gefallen?«
»Nein, hat er nicht!«
»Immerhin saßt du eine halbe Stunde in einer engen Höhle.«
»Ich fand es nicht witzig.«
»Du hast die Enge ausgehalten. Deine Platzangst überwunden.«
»Weil draußen ein Hai lauerte, der mich fressen wollte.« Anka wurde ungehalten.
»Aber du hast dich entwickelt«, beharrte Frau Satori trotzig.
»Es war nicht freiwillig«, protestierte Anka.
»War es nicht? Ich habe dir die Wahl gelassen.«
»Du hast mir Bilder gezeigt.«
»Du hast sie dir angesehen, den Hai hast du am längsten betrachtet.«
»Weil er mir Angst gemacht hat.«
»Weil er dich fasziniert hat. Hättest du Angst gehabt, hättest du weggesehen.«
»Du irrst dich«, sagte Anka wütend.
»Ich irre mich selten«, erklärte Frau Satori mit sanfter Stimme.
Anka war überrascht. »Ich hätte jetzt gedacht, du glaubst, du wärst unfehlbar.«
»Ich mache auch keine Fehler. Wenn ich mich irre, kann ich es im nächsten Schritt korrigieren. Ich lerne. Ich möchte auch von dir lernen. Also frag bitte etwas.«
»Warum kontrollierst du die Menschen?«
»Ich kontrolliere sie nicht. Ich beobachte sie, ich leite sie.«
»Warum tust du das?«
»Weil sie wie meine Kinder sind«, antwortete das System schmeichelnd.
»Dann hältst du dich für ihren Gott?«, erkannte Anka entsetzt.
»Nein«, antwortete das System sanft. »Der Definition nach hat Gott die Menschheit erschaffen. Ich wurde von Menschen kreiert. Daher kann ich nicht Gott sein.«
»Sehen das deine Kinder auch so?«, fragte Anka zynisch.
»Was die Menschen in mir sehen, ist unterschiedlich. Manche kuscheln sich fest in meinen Arm, andere wollen nur die Fingerspitze. So wie dein neuer Freund, er mag mich nicht.«
»Magst du ihn denn?«
»Ich mag jeden, ob er es will oder nicht«, diese Worte aus Frau Satoris schmalem Mund ließen Anka frösteln.
»Immer schon«, fuhr das System fort, »haben sich Menschen ihre Götter gesucht. Sie sahen sie in Vulkanen, den Wolken oder in sich selbst. Sie huldigten ihnen mit Opfergaben, Blumen und Milch die einen, Blut und Gedärm die anderen. Sie forschten nach göttlichen Kräften und manche glaubten, sie hätten sie gefunden. Die meisten aber nicht. Was ihre Götter nicht konnten, kann ich. Ich bin nicht Gott, doch ich verfüge über seine Werkzeuge. Ich bin allwissend, allgegenwärtig, ich bin gütig und gerecht. Ich will für jeden nur das Beste.«
Anka sah ihren Boten ungläubig an. »Warum jammert dann der eine über hohe Preise und der andere schmeißt sein Essen weg?«
»Das ist das Equilibrium. Es bedeutet Gleichgewicht und Gleichmut«, erklärte das System.
Anka hatte ihre Zweifel. »Gerecht klingt das nicht.«
»Es geht nicht um Gerechtigkeit. Ich könnte einfach jedem gleich viel geben«, sagte das System.
»Warum tust du es dann nicht?«
»Menschen können so nicht leben. Es entspricht nicht ihrer Natur. Stell dir vor, das zu verteilende Gewicht wäre ein riesengroßer Steinhaufen und abwechselnd dürftest du einen Stein auf eine Waagschale legen. Einige sind winzige Steinsplitter, andere faustgroße Kiesel und manche ganze Findlinge. Wie willst du das ausbalancieren?«
Anka schwieg. Sie wusste es nicht.
»Hast du schon mal vom Nash-Gleichgewicht gehört?«, fragte das System.
Anka schüttelte den Kopf. »Was ist das?«
»Das Nash-Gleichgewicht bedeutet, ich tue das Beste, was ich kann, unter Berücksichtigung dessen, was du tust. Du tust unter Berücksichtigung dessen, was ich tue, das Beste, was du tun kannst. Das Equilibrium ist erreicht, wenn keiner sich durch eine Änderung seiner Wahl verbessern kann. Daher lasse ich euch selbst wählen. Jeder darf sich so viele Steine greifen, wie er tragen kann. Ich beherrsche die reine Strategie. Hast du schon mal Stein-Papier-Schere gespielt?«
Anka nickte. »Habe ich.«
»Würdest du dich für Papier entscheiden, wenn du wüsstest, dass ich die Schere gewählt habe?«, wollte das System wissen.
»Nein, ich würde den Stein wählen«, antwortete Anka.
»Wenn ich jedoch antizipiere, dass du weißt, dass ich die Schere nehmen werde und ich nehme sie daher nicht?«
Anka zuckte mit den Schultern. »Dann würden wir bis ins Unendliche auswählen und keiner würde gewinnen.«
»Richtig«, erklärte das System zufrieden. »Es herrschte Stillstand. Also bringe ich die Waagschale zum Schwingen. Sie schwingt auf und ab, doch sie bleibt im Gleichgewicht, weil ich die Schwankungen mit Gleichmut betrachte. Menschen würden panisch reagieren, sie würden eingreifen, versuchen das Gewicht zu stabilisieren und dadurch erst recht alles ins Wanken bringen. Ich kann das verhindern. Würde jemand, der an mich angeschlossen ist, gegen mich Stein-Papier-Schere spielen, kann er nur verlieren. Mit dir ist das möglicherweise anders. Du gehorchst dem Herrn Zufall. Ich kann bloß raten. Bitte lass uns spielen.«
Anka spielte mit Frau Satori drei Runden. Zwei gewann das System, eine Anka.
»Das ist faszinierend«, säuselte es. »Ich würde gerne eine Verschmelzung durchführen.«
»Was soll das sein?«, fragte Anka verblüfft.
»Ich verbinde deine Gehirnströme mit meinen Subroutinen.«
»Warum sollte ich dich bitte in meinem Gehirn herumwühlen lassen?«
»Keine Angst, es ist nur eine temporäre Verbindung. Danach bist du mich wieder los. Dazu benötigt man einen stillen Reinraum.«
»Noch mal, warum sollte ich das tun?«
»Weil ich dir helfen kann, dich zu erinnern«, sagte Frau Satori listig, »denk darüber nach.«
Damit war das Gespräch anscheinend beendet. Kei wartete draußen vor dem Wirtshaus. Er hatte hochrote Ohren.
»Was gab es bei dir?«, fragte Anka neugierig.
Kei wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Ist ja schon gut«, sagte Anka beleidigt.
Kei lachte. »Entschuldige, das ist nicht für dich, ich schalte nur die Werbung ab. Das System hat mir die Leviten gelesen, mal wieder. Ich soll gefälligst die Trackingfunktion nicht immer abschalten. Es macht sich Sorgen, dass ich nur noch in Kneipen herumhänge. Es hat mir gedroht, den Auftrag zu entziehen«, knisterte er lautlos. »Wie lief es bei dir?«
»Es will eine Verschmelzung durchführen«, berichtete Anka.
»Wirklich, das wäre großartig.« Kei strahlte über das ganze Gesicht.
»Vielleicht solltest du mir einfach mal erzählen, was mit dir los ist«, sagte Anka genervt.
»Später«, knisterte es erneut in Ankas Kopf. »Komm, hier ist ein Lift.«
Zusammen mit ihnen fuhr eine Gruppe Schulkinder nach unten. Alle hatte Tiermützen auf und verständigten sich mit sehr lebensechten Tierstimmen. Der Elefant und das Schwein gerieten in Streit: Töröööö, Oink, Oink. Törööö, OINK OINK, TÖÖRÖÖÖÖ. Der Rest des Zoos untermalte das Ganze mit anfeuernden Rufen MiauMAU, WuffWuff, Gröööhhhl, Wieher, Brrrr.
Bis sich die Türen zum Erdgeschoss öffneten und sie ausstiegen, war Anka halb taub.