Der Anfang – Leseprobe

S. 8 – 26

Anka fühlte sich, als hätte ihr jemand den Kopf abgerissen. ›Wenn der Kopf abgerissen ist, kann er nicht wehtun‹, korrigierte sie sich. Was aber, wenn nur noch ihr Kopf übrig wäre? Panisch versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie waren zugeklebt.

»Warte, die Augenlider sind noch zugeklebt«, sagte eine Stimme und Anka fühlte, wie ihr etwas feucht durchs Gesicht fuhr. »Versuch es noch mal.«

Anka öffnete langsam die Augen. Grelles Licht empfing sie und sie schloss die Augen direkt wieder. Vorsichtig tasteten sich ihre Lider Millimeter für Millimeter nach oben. Allmählich tauchten Formen auf, menschliche Körper in weißen Kitteln und hinter ihnen eine lange Reihe von Behältern, die Anka an Kühlschränke erinnerten, nur dass sie oval waren.

»Willkommen in der Zukunft«, tönte eine wohlklingende Stimme über ihr. »Sieh auf zu König Can. Erbebe in Ehrfurcht vor deinem Erlöser!«

»Lass den Scheiß, Can, die Kleine ist völlig verstört«, sagte eine zweite, heisere Stimme.

»Wäre ich wohl auch, wenn ich eigentlich tot sein sollte.« Can breitete bedächtig eine Decke über Anka.

Anka bemerkte entsetzt, dass sie vollkommen nackt war. Dazu war sie mit einem klebrigen, glänzenden Zeug bedeckt, als hätten alle Schnecken der Welt auf ihr ihre Jahreshauptversammlung abgehalten. ›Diese Irren haben mich entführt.‹ Anka betrachtete ihre Peiniger genauer, Can war ein stämmiger Mann von mittlerem Alter und dunkler Hautfarbe. Auf dem Kopf trug er ein Sofakissen. Nicht etwas wie ein Sofakissen, nein, es sah genauso aus wie eines der roten Samtkissen mit Fransen, die ihre Oma jahrelang gehegt und gepflegt hatte. Bei jeder Bewegung wogte es hin und her, fiel zu Ankas Erstaunen aber nicht herunter. Neben ihm stand ein hagerer Typ mit langen weißen Haaren unter einem Handtuch. Und zwar genau dem gleichen Handtuch mit gelben und weißen Streifen, welches Anka heute Morgen für ihre Haarwäsche benutzt hatte.

›Ich werde verrückt‹, begriff Anka.

»Jetzt im Ernst«, sagte der Mann mit dem Sitzpolster auf dem Kopf. »Ich bin Can. Du bist bei Cans Cold Charms. Das ist unser Lager. Wir tauen euch auf, schließen euch an, warten die gesetzlichen zwei Minuten, schalten euch ab und das war’s. Wir pumpen die Restflüssigkeiten ab und den Rest macht Betsy.« Er hob stolz eine vollkommen schneeweiße Kettensäge, sogar die Zähne waren weiß.

Anka sah Can entsetzt an. ›Das sind Serienmörder‹, schlussfolgerte sie.

»Die Einzelteile verkaufen wir gefriergetrocknet als Charms. Du glaubst nicht, was die Leute heutzutage für ein geschrumpftes Gehirn zahlen, welches sie versteckt unter der Bluse tragen, während sie die Rationale singen. Oder für etwas getrocknete Leber im Tee, um den Otto wieder flott zu machen, wenn du verstehst, was ich meine.« Can zwinkerte Anka verschwörerisch zu.

›Und sie haben sogar einen Kundenkreis‹, dachte Anka angewidert. Die Sache wurde immer rätselhafter.

»Dich haben wir angeschlossen und du hast angefangen zu atmen, ganz regelmäßig. Manchmal machen die Leichen pffffff, das hört sich an wie Atmen, sieht auch so aus, weil die Luft entweicht. Aber da ist nix. Bei dir war etwas, auch noch nach zwei Minuten und nach zwei Stunden. Nach zwei Tagen hat Beppo dich an einen Tropf gehängt. Das war gestern. Wir haben einen medizinischen Scan laufen lassen. Du bist vollkommen gesund. Also noch mal, willkommen im Jahr 2101.«

»Häh«, machte Anka. Sie lebte im Jahr 2020. Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern, was eigentlich passiert war.

Can sah Anka mitfühlend an. »Du versuchst, dich zu erinnern, stimmt’s? Das funktioniert nicht, deine Synapsen sind verklebt. Du musst ein paar Tage warten, dann wird es besser. Hoffe ich jedenfalls. Einen Fall wie dich hatten wir noch nicht. Tau dich erst mal auf. Beppo trägt dich zur Badetube, du solltest dich bewegen.«

Anka wollte gerne etwas sagen, aber mehr als »Häh« fiel ihr nicht ein. Also sagte sie nichts.

Der Dürre namens Beppo hob Anka von der Liege und trug sie durch einen Gang in einen weiteren gefliesten Raum. In einer Ecke lag ein längliches großes weißes Ei. Er steuerte geradewegs auf das Ei zu. Mit einem Zungenschnalzen öffnete es sich.

Anka blickte auf wohlig blubberndes Badewasser. Es roch nach Kirschen und Sommersonne. Dankbar ließ sie sich in das warme Wasser gleiten.

Beppo schnalzte erneut mit der Zunge und das Ei schloss sich um Anka.

»Nicht zumachen«, protestierte sie schwach.

Beppo runzelte die Stirn. »Zu ist besser, glaub mir. So kann sich das Ei ausdehnen. Sonst läuft es ja über.« Entschlossen schnalzte er noch mal und das Ei schloss sich.

Anka gurgelte und bekam Panik, im süßlich duftenden Badewasser zu ertrinken. Sie strampelte und rang nach Luft. Plötzlich ging das Licht an und Anka bemerkte verwundert, dass sie nicht länger im Ei war, sondern in einem Meer schwamm. Der Himmel war bedeckt mit weißen Schäfchenwolken, die bis an den Horizont reichten. Vorsichtig streckte Anka ihre Beine im Wasser aus. Sie fühlte sich, als bestünde sie nicht aus Knochen, sondern aus Lakritzstangen. Anka wackelte mit den Zehen. Sie paddelte mit den Armen und planschte herum. Der Ozean war klar, warm und glitzerte, obwohl keine Sonne zu sehen war.

War sie noch im Ei? Wieso konnte sie sich dann so frei bewegen? Anka machte ein paar Kraulzüge, und bald begann sie mit kräftigen Zügen die Wellen zu durchpflügen. Schwimmen war eine der wenigen Tätigkeiten, bei denen sie ganz bei sich sein konnte. Die Welt verschwand hinter einem kühlen Schleier und außer dem Rauschen des eigenen Blutes herrschte Stille. Anka liebte Stille. Deswegen liebte sie Schwimmen. Normalerweise schwamm sie im örtlichen Hallenbad. Dort musste sie den Rentnerbojen und den Wasserbomben der Halbwüchsigen ausweichen, die das Stammpublikum ausmachten. Daher hatte Anka vor einiger Zeit angefangen zu tauchen. Im virtuellen Meer gab es nur leichten Wellengang. Statt vergilbter Fliesen erblickte Anka winzige bunte Fische. Sie holte einen tiefen Atemzug. Trotz ihrer Platzangst tauchte sie gerne. Unter ihr waren nicht nur Fische, sondern auch Quallen, rosa und wogend wie eine geöffnete Blüte oder mit blau und silbern schimmernden Fäden. Anka stellte entzückt fest, dass sie unter Wasser atmen konnte. Vor ihrem Gesicht befand sich immer eine Luftblase, egal wie sie sich drehte und wendete. Anka tauchte in die Tiefe. Am Meeresgrund wuchsen Felder von Korallen, in deren Höhlen reger Verkehr herrschte. Anka sah Seepferdchen, Fischschwärme, die wie ein einzelnes Lebewesen wirkten, Schwämme, Seesterne und Fische mit Flossen, die als Fetzen um ihren Leib schlotterten. Etwas tiefer erspähte Anka einen kleinen Hai und eine Gruppe Schildkröten.

›Oder heißt es Schule?‹, überlegte Anka gerade, als mit einem warmen Gong das Licht ausging und der Horizont auseinanderklaffte. Es war die Badetube, die sich langsam öffnete. Anka war vollständig trocken und duftete nach Kirsche. »Tolle Sache, so eine Tube«, Cans Stimme kam aus einem Lautsprecher über der Tür. »Ich habe sie seit letzter Woche. Sie ist aus diesem neuen Flexoplast. Das Material passt sich organisch deinen Bewegungen an. Wir haben dir Anziehsachen bestellt, sie liegen auf dem Stuhl.«

Über einem Hocker hingen eine Hose und ein braunes Rüschenhemd. Auf dem Boden stand ein Paar Mokassins. Die dunklen Kleidungsstücke wirkten in der gänzlich weißen Szenerie wie Schmutz.

»Ich kann dich hören, das ist ein Zwei-Wege-System«, dröhnte Can.

»Warum ist hier alles weiß?« Anka schlüpfte in die Jeans.

»Wegen der Aura. Wir produzieren hier Charms.«

»Was soll das sein?«, fragte Anka neugierig.

»Tja, wie du weißt oder wahrscheinlich eher nicht weißt, leben wir heutzutage im rationalen System. Es vermisst uns und unsere Welt. Obwohl das System uns umhüllt, unsere Schritte leitet und lenkt, haben einige den Wunsch, dem Glück etwas auf die Sprünge zu helfen. Wenn es mit der Beförderung nicht klappt oder die Angebetete immer wegschaut, solche Dinge eben. Dafür gibt es Charms. Weiß man doch seit dem Mittelalter, dass Körperteile von Toten zu Glück verhelfen.«

»Habt ihr keine eigenen Toten mehr, die ihr ausweiden könnt?« Anka war irritiert.

»Tote haben wir schon. Unsere Toten können wir nur nicht nehmen. Mit unserer Geburt melden wir uns im System an und daher gehören wir auch nach unserem Ableben dem System. Unsere Welt ist vollständig biorecycelt. Es gibt keinen Abfall mehr, die alte Haut wird zu neuen Schuhen, das ist doch fantastisch.«

»Esst ihr auch …«, Anka wollte Leichen sagen, aber sie schluckte es herunter und stotterte »Abfall?«

»Wo denkst du hin. Den Großteil unserer Nahrung bekommen wir von den Fundis.«

»Von wem?«

»Ähh, das soll dir der Sozialarbeiter lieber erklären«, nuschelte Can durch den Lautsprecher. »Wir haben der Behörde Bescheid gegeben. Sie schicken jemanden vorbei. Er müsste gleich hier sein. Geh durch den Gang zum Lager, davor ist die Teeküche, da gibt es was zu essen.«

Der glänzende Lack der Tür reflektierte Ankas Spiegelbild. Die Hose und das Hemd passten perfekt. Ihre haselnussbraunen Augen hatten dunkle Augenringe und schauten sie verwirrt durch störrische, kupferfarbene Locken an. Selbst nach achtzig Jahren Tiefschlaf waren ihre krausen Haare kaum länger als zuvor und ringelten sich knapp bis an ihre Schultern. Ihr Teint passte gut zu den weißen Fliesen, sie war bleich wie ein Gespenst. Nur ihre zahlreichen Sommersprossen waren etwas dunkler. Anka stakste mit steifen Schritten den Gang entlang. Sie bewegte sich wie an Fäden. Die Teeküche lag auf der linken Seite und war eine Art Anbau im Lager selbst. Durch große Scheiben sah Anka die Kühlschränke mit den Leichen und den Verarbeitungstisch, auf dem jetzt einsam und verlassen die Kettensäge thronte. Beppo saß auf einem Klappstuhl und trank etwas, das nach Kaffee aussah und duftete.

»Ist das Kaffee?« Anka schnappte sich einen Stuhl.

»Klar doch.«

»Kaffee gibt es noch?«, freute sich Anka.

»Wenn es nach mir geht, wird es Kaffee immer geben.« Beppo schob ein Körbchen mit runden Brötchen zu ihr herüber. Die Brötchen waren nur so groß wie eine Walnuss, aber gefüllt mit Käse, Schinken, Rührei.

»Lecker«, sagte Anka.

»Dank unserer Freunde hinter dem Vorhang.« Beppo griff ebenfalls zu. »Can ist hinten im Lager, zum Auftauen.«

»Taut ihr oft Leute wie mich auf?«, kaute Anka.

»Nein«, schmatzte Beppo. »Wir haben noch Konkurrenten. Du bist in den Jahren, seitdem unser Business besteht, erst die Dritte.«

»Es gibt aber noch andere?«

»Vor zehn Jahren haben die Chinesen eine Oma aufgetaut, die hat ein ganzes Jahr gelebt. Sie hatte einen eigenen Kanal. Urgroßmutters Welt lief eine Zeitlang erfolgreich auf VOX. Dann gab es noch diesen Zwerg, aber der ist hinter den schwarzen Vorhang geflüchtet.«

»Warum waren wir überhaupt eingefroren?«, wollte Anka wissen. »Hat man uns bestraft?«

Beppo lachte. »Ihr wolltet das doch so. Todkranke, Alte, Verzweifelte wandten sich an Freeze-Life, um ihrem Schicksal zu entfliehen.«

Anka wurde schwindlig. Freeze-Life, den Namen hatte sie schon gehört, und zwar erst vor wenigen Tagen. Ihr Vater hatte ihr diesen Hochglanzprospekt gezeigt. Sie hatte gesagt, das wäre eine Schnapsidee. Was war dann passiert? Anka konnte sich nicht erinnern.

»Die meisten ehemaligen Kunden, die wir auftauen, sind tot wie nur irgendwas«, fuhr Beppo fort. »Sie waren krank und hofften auf Hilfe in der Zukunft. Was hatten sie erwartet? Wir haben allein in der Fundation 12 Milliarden Menschen, wir brauchen nicht noch Todkranke aus der Vergangenheit. Tut mir leid, wir haben kein Interesse. Das System hat entschieden, dass die Tiefgefrorenen nicht systemrelevant sind. Das bedeutet, sie befinden sich außerhalb des Systems. Was sie auch so wertvoll macht. Wenn der Mietvertrag abgelaufen ist, tauen wir euch auf. Wir halten uns an die Verträge, selbst wenn diese noch vor dem System geschlossen wurden. Deiner war einer mit der längsten Laufzeit. Keine Ahnung, wo du so viele Credits herhattest. Das muss ein Vermögen gekostet haben. Die meisten Freeze-Life-Mitarbeiter hatten sich nach ihrem Tod ebenfalls tiefkühlen lassen. Mit ihrer kurzen Laufzeit sind die längst schicke Anhänger, Teeaufgüsse, Tabletten und Glücksbringer. Obwohl wir es könnten, helfen wir nicht. Krebs ist heutzutage sehr gut heilbar, zu deiner Zeit wahrscheinlich nicht. Wir warten einfach ab. Die meisten Kunden sind wie gesagt schon tot, die anderen sterben nach spätestens einer Minute. Freeze-Life hatte diese tolle neue Idee, den Körper nicht komplett tiefzufrosten, wie es frühe Verehrer der Cryogenese getan haben. Das hätte auf Dauer die Zellen zerstört. Stattdessen wurde der Körper kurz nach oder sogar noch vor dem Tod in eine kalte Homöostase überführt. Bei einer Niedertemperatur und eingelegt in Freeze-Life-Spezialgel solltet ihr überdauern, bis eine bessere Zivilisation euch zu neuem Leben erweckt. Nur ist das hier keine bessere Zivilisation, jedenfalls nicht für euch.« Beppo reichte Anka einen Kaffee, der so schwarz war wie ihre Stimmung in diesem Moment.

 

Der Mann vom Sozialamt war jung, schlaksig und trug einen weiten Anzug, blassrosa, mit ziegelgrauer Krawatte, dazu einen grauen Bowler. Seine zum Zopf geflochtenen langen Haare waren von so dunklem Blau, dass sie fast schwarz wirkten. Auf seiner scharfgeschnittenen Nase saß eine runde Brille mit blau getönten Gläsern. »Guten Tag«, begrüßte er Anka sehr laut und sehr langsam.

»Sie versteht dich, wir haben uns bereits unterhalten«, grunzte Can, der gerade mit der surrenden Betsy eine dicke weiße Hand von einem noch dickeren weißen Arm trennte.

Der Sozialarbeiter fummelte eine Plastikkarte aus seinem Anzug. »Kei-Mes Ra Del Uti, du kannst mich Kei nennen«, stellte er sich vor. Seine Stimme klang älter, als er aussah. »Ich bin hier im Auftrag des Systems, Abteilung für soziale Fragen, Sonderprojekt Reliktanpassung.«

Wer das Relikt war, konnte sich Anka denken. Die restlichen Worte, System und Anpassung, erweckten ihr Unbehagen.

»Du heißt Anka Neumann, geboren im Jahr 2001, biologisches Alter neunzehn, richtig?«

Anka nickte wortlos.

Kei tätschelte ihr die Schulter. »Du hast sicher viele Fragen.«

Anka war irritiert, Kei blickte zwar zu ihr, sah sie aber nicht an. Seine Augen bewegten sich in rascher Geschwindigkeit hinter den blauen Brillengläsern von links nach rechts und wieder zurück.

»Du hast meine volle Aufmerksamkeit. Ich sortiere nur schnell ein paar Unterlagen«, erklärte Kei. »Also frag ruhig.«

In der Tat hatte Anka einige Fragen. Wo war sie, wann war sie, wer war sie, wer waren die anderen? Da sie nicht wusste, wo sie beginnen sollte, stammelte sie: »Was sollen diese bescheuerten Hüte?«

»Welche Hüte?«, erkundigte sich Kei besorgt.

»Das Sofakissen und das Handtuch.«

»Ach so, die sind nicht echt, die sind aus Fuzzyflex. Fuzzyflex wurde Mitte des 21. Jahrhunderts erfunden und hat zusammen mit den 3-D-Druckern das Produktdesign revolutioniert. Das Material ist weich und biegsam. Es lässt sich in jede Form bringen und haftet. Ein Kubikmeter wiegt nur fünfzig Gramm. Antike Gegenstände sind zurzeit in Mode. Letzte Saison waren es Katzen und Eulen. Das hätte dich noch mehr verstört. Die Eulen sahen ziemlich echt aus. Selbst ich habe mich das erste Mal zu Tode erschreckt, als ich jemandem mit einer Schleiereule auf dem Kopf begegnet bin. Im Winter werden Autoreifen das flammneue Ding. Ich habe ein paar Credits darauf gewettet. Ich besitze ein Gespür für Trends und spiele gerne Marktforschung. Die Bezahlung für Sozialarbeit ist nicht gerade üppig.«

Scheinbar plapperte dieser Kei munter drauflos, sobald man ihm ein Stichwort gab. »Können wir nach draußen gehen?«, bat Anka. Sie wollte das sterile Weiß der Charm-Fabrik schnellstmöglich hinter sich lassen. Wenn sie erst mal den Himmel sah, dann würde sie, ja, würde sie was? Aufwachen? Tief in ihrem Mageninneren protestierten die Brötchen. Sie konnte fühlen, dass dies kein Traum war, aus dem sie so schnell erwachen würde.

»Klar, gehen wir nach draußen. Hast du irgendwelche Sachen?«, lächelte Kei.

Can stoppte die Kettensäge. »Es gibt einen Koffer, der mit eingelagert wurde. Ich schicke ihn per Drohne. Gib mir die Adresse.«

Kei rückte die Brille auf der Nase zurecht. »Das System hat mir eine Subeinheit zugeteilt, solange ich den Auftrag habe. Sie kommt erst mal mit zu mir in die Speicherstadt.«

Anka hörte nur halb zu und strebte Richtung Ausgang. An einer Seite des Lagers führte eine Schiebetür nach draußen. Tageslicht fiel hindurch. Kei beschleunigte seine Schritte und nahm sie bei der Hand. Anka wollte sie erst abwehren, doch als sie durch die Tür traten, griff sie fest zu. Sie stand auf einem schmalen Bordstein und blickte direkt in einen Abgrund. Etwa zehn Meter unter ihr flitzten Flugdrohnen zwischen grünen und weißen Metallcontainern umher. Die Container fuhren auf einer Art Lastwagen, nur dass keine Steuerkabine zu sehen war. Dazwischen spannten sich breite graue Röhren. Sie verzweigten sich spiralförmig zu Knoten und flochten einen gigantischen pulsierenden Zopf um den Verkehr. Aus der Straßenschlucht drangen das Sausen der Rotoren und das monotone Brummen der Transporter zu ihr hinauf.

»Wah«, machte Anka.

»Keine Angst«, lachte Kei. »Da kannst du nicht hineinfallen. Hier ist ein stabiler Luftstrom, siehst du«? Er trat in die Luft über der Fahrbahn und lief einfach weiter.

Anka starrte auf ihre neuen Schuhe. Sie fragte sich, ob diese auch aus Menschenhaut gefertigt waren.

»Los, trau dich, es ist nicht gefährlich«, ermunterte sie ihr Sozialarbeiter.

Anka machte einen vorsichtigen Schritt. Sie sackte ein wenig ein, als trete sie auf frischen Schnee. Jesusgleich schritten Anka und Kei über die Straße, die unter ihnen rumorte.

Mitten auf der Straße blieb Kei stehen und deutete nach oben. »Siehst du, da ist der Himmel.«

Anka sah zuerst nur graue Klötze, die sich bis an den Horizont stapelten. Oben zwischen den Türmen erschien ein viereckiger blauer Fleck, etwa so groß wie ihre Hand.

»Ziemlich beengt«, stellte sie fest.

»Freie Flächen sind selten, da gibt es nur den Platz der Rationale, die Gärten und das Miniaturwunderland. Da kannst du dir die Stadt verkleinert ansehen.«

Anka fragte sich ob der obszönen grauen Masse an Türmen, wer das gerne wollen würde.

»Da vorne ist ein Park.« Kei zeigte auf eine traurig aus dem Asphalt wachsende Tanne. Über ihr hing eine Art Lampenschirm.

»Das ist ein Baum«, sagte Anka verwundert.

»Das ist ein Park«, beharrte Kei.

»Sieht es hier überall so aus?«

»Das hier ist ein Industriegebiet. Ich wohne in der Speicherstadt, die ist nicht so grau.«

»Ich fühle mich eingesperrt«, jammerte Anka.

»Das sind die Körpererinnerungen an die Jahre in der Kühlbox«, sagte Kei. »Das System rät abzuwarten.«

»Was passiert jetzt mit mir? Gibt es einen Plan?«

»Es gibt immer einen Plan, das System überlegt genau, welche Schritte zu tun sind. Aber wir kennen nur die einzelnen Schritte, nicht den Weg«, erklärte Kei.

»Aha, und das heißt?«

»Das heißt, der nächste Schritt ist Realitätseinführung. Hier steht, ich soll dir die grundlegenden Fazilitäten zeigen.«

»Ja, das ist deutlicher, vielen Dank«, bemerkte Anka sarkastisch.

Kei grinste sie durch die Brillengläser an. »Anmerkung zum Sozialbericht, das Subjekt verfügt über Humor, das erleichtert die Wiedereingliederung. Erbitte Antrag auf Anschlussanhörung.« Er legte einen Finger an seine Brille, als denke er nach. »Keine Antwort. Das System hat dich noch nicht registriert, daher weiß es nicht, was es von dir halten soll. Es prüft noch.« Kei klopfte nochmals an die Brille. »Okay, gehen wir was trinken.«

Anka blickte ihn erstaunt an. »Du meinst was trinken oder WAS TRINKEN, etwa Alkohol?«

»Ähh, so was Ähnliches. Alkohol nutzen wir nur noch in der Medizin. Zum Trinken ist er zu teuer, nur Snobs können sich das leisten. Ich dachte an Pilzbier.«

»Wie spät haben wir?«, fragte Anka irritiert.

»Fast elf Uhr morgens«, sagte Kei.

»Trinkt ihr immer so früh?«

Kei grinste. »Wir nicht, ich schon. Los komm, wir gehen zu Humphrey Bogart.«

»Du meinst den Schauspieler?«

»Humphrey Bogart war ein Schauspieler? Sieh einer an. Das wusste ich nicht.«

»Dein Plan ist, Bier zu trinken?«

»Wie gesagt, ich kenne den Plan nicht, nur den nächsten Schritt. Ich soll dich mit allem vertraut machen. Das Humphreys ist der vertrauteste Ort, den ich kenne. Wir können zu Fuß gehen, eine Filiale liegt direkt in der Nähe. Klar, die Lagerarbeiter trinken gerne Bier.« Kei schritt schwebenden Fußes über den Verkehr und zog Anka mit sich um die nächste Ecke.

Einige der grauen Kästen hatten Aussparungen mit eingefügten knallbunten Fenstern. Scheinbar waren es Geschäfte. Nur waren sie zweidimensional und bestanden aus nicht mehr als Schaufenstern, in denen unterschiedlichste Waren feilgeboten wurden. Bei einigen handelte es sich offensichtlich um Lebensmittel, bei anderen um Kleidung. Viele der angebotenen Dinge erschienen Anka allerdings sehr rätselhaft. Gerade passierten sie ein Geschäft, in dem Sprechblasen in allen erdenklichen Farben und Formen hingen. »Was soll das sein?«, fragte sie Kei.

»Du kannst dir eine Aussage kaufen, die wird dann angezeigt, wenn dich jemand anschaut. Ich habe auch welche, habe sie aber ausgeschaltet.« Kei räusperte sich und über seinem Hut bildete sich eine Schrift. CARPE DIEM – NUTZE DEN TAG stand dort in dicken schwarzen gotischen Lettern.

Anka schüttelte den Kopf, manche Dinge waren scheinbar nicht totzukriegen.

»Nicht gut? Pass auf, ich habe noch den hier.« Kei schnalzte erneut. Eine geschwungene Schrift erschien aus dem Nichts. Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nichts anderes als Form. »Das habe ich aus einem antiken Text. Den anderen Spruch hat das System für mich ausgesucht, weil er angeblich am besten zu meiner Person passt. Aber dieser hier gefällt mir besser.«

Die Schaufenster machten Platz für eine Anzahl von Restaurants und Imbissen. Auf den ersten Blick sahen sie in Ankas Augen ganz normal aus. Nur Werbetexte, wie »Hier gibt es echtes Fischifleisch«, »Aktion: Pomerol« oder »Jetzt im Angebot: Rosarinen und Kastraten«, verwirrten sie. Sie erblickte eine unglaubliche Vielzahl. Es gab französische Bistros, italienische Pizzerien, mexikanische Tacostationen, afrikanische Barbecues, bayerische Schmankerl, orientalische Tapas, mediterrane Salatbars, indische Garküchen und chinesische Wokerias. Burgerbuden mit roten Plastiktischen und Bänken standen direkt neben Lokalen mit feinen Tischdecken und Kristallgläsern. Überall saßen Menschen und speisten. Anka spähte durch die Fenster. In der Mitte befand sich immer ein großes Band wie in einem Sushirestaurant. Nur dass statt Fischröllchen eben Pizzen, Baguettes oder Burger ihre Runden drehten. Kellner oder anderes Personal sah sie nicht.

Kei war neben sie getreten und starrte auf einen feisten Mann, auf dessen Teller eine halb aufgegessene Pizza lag, während er bereits den Nachtisch löffelte. »Jetzt sieh dir diesen Snob an, isst nicht mal auf, obwohl er bestimmt hundert Credits für die Pizza gezahlt hat, dieser dekadente Anteilseigner.«

Die Pizza sah wunderbar aus, der Boden war dünn und leicht gewellt, als hätten liebevolle Hände ihn geformt und knusprig gebacken. Der Belag bestand offenbar aus Muscheln und Algen. »Ist das viel Geld, hundert Credits?«, fragte Anka.

»Ich bekomme für dein Essen zweihundert Credits insgesamt und das ist für zwei Wochen gerechnet. Zum Glück ist das Humphreys eine Basisstation. Das hier sind Premiumstationen, pass auf, du erkennst es an den Markierungen. Gleich beginnt der Mediumbereich.« Kei wies auf einen schmalen Goldstreifen, der am Bürgersteig entlanglief. Als hätten sie eine unsichtbare Grenze überschritten, färbte sich der Streifen silbern.

Die Geschäfte sahen aus wie zuvor. Doch sie unterschieden sich in Kleinigkeiten. Auch hier gab es Kleidung und Lebensmittel, aber die Hosen und Hemden sahen weniger apart aus, die Blumenmuster auf den Kleidern waren weniger filigran. Die Lebensmittel wirkten weniger frisch, weniger natürlich. Es waren nur Nuancen, doch sie waren deutlich zu erkennen. Das silberne Band auf dem Bordstein wandelte sich schon nach kurzer Strecke in Kupfer.

»Ich weiß, was du denkst. Die Mittelschicht schrumpft seit Jahren.« Kei hob begrüßend die Arme. »Willkommen im Basisbereich für Leute ohne Lizenz. Spaß und Vergnügen für die Tagelöhner.«

»Du bist doch Sozialarbeiter?«

Kei lachte. »Das ist nur ein Aushangjob. Wie die meisten heutzutage habe ich keine Lizenz und werde auch nie eine haben. Bis gestern war ich bei der Satellitenüberwachung und davor Erzähler im Miniaturland.«

»Benötigt man keine Ausbildung zum Sozialarbeiter?«

»Nein, heute kann jeder fast alles, sogar operieren. Das System sagt dir einfach den nächsten Schritt. So kann auch jemand ohne Ausbildung komplizierte Maschinen zusammensetzen. Selbst Bücher werden auf diese Weise geschrieben.«

»Das kann nicht funktionieren.« Anka sah ihren Betreuer skeptisch an.

»Pass auf, kannst du ein Brot backen?«

Anka schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht.«

»Wenn dir allerdings jemand sagt, nimm so und so viel Mehl und Wasser, dann mach dies und dann das. Dann könntest du doch ein Brot backen?«

»Wahrscheinlich könnte ich das. Aber Menschen operieren und Brot backen ist doch sehr unterschiedlich.«

»Nicht wenn du es als System verstehst. In der medizinischen Versorgung gibt es auch heute noch Spezialisten. Diese haben Zugang zu statistischen Auswertungen und können Operationsroboter programmieren. Für die Bedienung braucht man keine Spezialisten, hier reichen Arbeiter mit Lizenz. Wenn du eine Lizenz zum Führen eines Operationsroboters hast, erteilst du nach der Diagnostik, die ja das System erstellt, nur den Befehl ›Blinddarm entfernen‹. Das war es auch schon. Für alles darunter gibt es nicht einmal eine Lizenz. Ich habe selbst bereits als Apotheker gearbeitet. Die Patienten geben dir das Rezept, du suchst nach dem Code und reichst ihnen die Pillen, Salben oder Tropfen. Das ist Fließbandarbeit. Das System benötigt uns nicht wirklich, doch es sorgt dafür, dass wir genug zu tun haben, so hält es das System am Laufen.«

Anka war nicht überzeugt. »Was ist das System eigentlich, von dem du die ganze Zeit redest, ist es eine Instanz oder ein Programm«?

»Das System sind wir. Warte, ich erkläre es dir im Humphreys.« Kei öffnete einen violetten Samtvorhang.

Anka stolperte hinter ihm eine enge Rampe hinunter in eine schummerige Bar. An den Wänden liefen Bänke aus silbernen Leder entlang, vor denen in regelmäßigen Abständen kleine Tische mit Leuchtfüßen platziert waren. Auf den Bänken konnte Anka Gestalten ausmachen, die allein oder zu zweit in den Kissen versanken. Die meisten waren allein. Der Boden war mit Spiegeln bedeckt und in der Mitte stand nur wenig ausgeleuchtet eine ebenfalls verspiegelte kreisförmige Bar. Im Zentrum betrachtete ein Mann mit einem eindrucksvollen Hut versonnen die zahlreichen Fingerabdrücke und Fettschlieren auf dem Tresen. Es war tatsächlich Humphrey Bogart. Weiter hinten rekelte sich Marilyn Monroe und zog an einer Zigarette ohne Rauch. Scheinbar war sie sein weibliches Pendant. Kei schob Anka auf einen der Barhocker, die sich um die Bar reihten. Anders als bei gewöhnlichen Barhockern strömte aus einer Reihe Löcher ein nach Holz duftender warmer Luftstrom.

»Mach es dir bequem.« Kei lehnte sich auf seinem Barhocker in die Luft.

Anka merkte, dass der Luftstrom immer in ihrem Rücken war, egal wie sie sich drehte.

»Drück einfach nach hinten, wenn du tiefer sitzen willst.« Kei sank in den Hocker wie in einen Liegestuhl.

»Aloha, Kei, das Gleiche wie immer?«, fragte Humphrey Bogart mit einem beeindruckenden Bariton.

»Klar, gib mir ein Zweinuller«, orderte Kei. »Er ist ein Hologramm«, flüsterte er Anka zu.

Das hatte sie bereits bemerkt. Von Nahem erschien der Barkeeper leicht durchscheinend wie ein Geist aus der Vergangenheit, der er ja auch war.

Er beugte sich über den Tresen und sah ihr tief in die Augen. »Und was darf ich deiner unbekannten schönen Begleitung bringen, hmm?«

»Auch ein Pilz, ich soll sie mit den Grundlagen vertraut machen, Befehl vom System.« Kei wandte sich an Anka. »Die Rauschstufen wählst du über Promille aus.«

Anka entschied sich für die kleinste Stufe, 0,02. »Kommst du oft hierher?«

»Im Hafengebiet bin ich so gut wie nie, aber das System liest meine ID und daher kennt mich jeder Humphrey in der Stadt.«

»Es gibt mehrere?«

»Sicher, jeder Bezirk hat einen. Auch die Premiumbereiche, nur dort ist der Humphrey real und keine billige Kopie. Es gibt echten Whisky, jahrelang gelagert im Eichenfass, keine Maisreduktion angereichert mit Aromen und Rauschsubstanzen. Die Steaks sind aus Rindern, kein Analogfleisch wie hier. Schmeckt nicht übel, aber was soll ich sagen, es hat halt nie gelebt.«

Zwei Gläser rollten über die Theke, in die ein schmales Transportband eingelassen war.

»Also Prost.« Kei stieß an ihr Bier, das schäumend vor ihr glitzerte.

»Warum kann ich mich an nichts erinnern?« Anka nippte vorsichtig an dem Schaum. Es roch nach Bier und schmeckte auch so, obwohl es aus Pilzen gebraut wurde, wie Kei versicherte, und keinen Alkohol enthielt, sondern leichte Stimulanzien, genannt Halluzigene.

»Kannst du dich an gar nichts erinnern?«, fragte Kei bestürzt.

Anka ging in Gedanken die Stationen ihres Lebens durch. Das Schicksal hatte ihr keinen roten Teppich ausgerollt, eher eine borstige Fußmatte. Es war alles noch da. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war ein Streit mit ihrem Vater. Sie hatte gesagt, es wäre eine Schnapsidee. Doch sie wusste nicht mehr, worüber sie sich gestritten hatten. Alles danach war, als versuche sie, Wolken zu greifen. Immer wenn sie sich ihnen näherte, stoben sie davon. »Ich weiß nicht mehr, wie ich in den Kühlschrank gekommen bin«, seufzte sie.

»Das Kurzzeitgedächtnis leidet am meisten. Die Langzeitspeicher deines Gehirns funktionieren, das ist gut. Dein sensorisches Gedächtnis funktioniert ebenfalls, du kannst sehen, hören, sprechen, schmecken«, er deutete auf Ankas Bierglas. »Ist dein Geruchssinn in Ordnung?«

Anka dachte an das Bad. »Danke, dem geht’s bestens.«

»Durch die kalte Homöostase ist dein Gehirn sozusagen abgestürzt. Dabei sind Information, die auf dem Weg vom Kurzzeit- in den Langzeitspeicher waren, verloren gegangen.«

»Can sagt, ich soll ein paar Tage warten, dann kommt die Erinnerung wieder.«

Kei schüttelte bedauernd den Kopf. »Bei einem absoluten Systemabsturz verliert sich alles, was lose herumlag. Nur das, was abgelegt und einsortiert wurde, kannst du rebooten.«

Anka nippte an ihrem Glas. Sie dachte an ihren Computer. Der stürzte ständig ab. Sie wusste, es gab Mittel und Wege, nicht alle, aber zumindest einen Teil der verlorenen Informationen zu retten. Vielleicht gelang ihr das mit ihren Erinnerungen ebenfalls. »Also was oder wer ist das System?«, wollte sie wissen.

Kei nahm einen großen Schluck Bier. »Pass auf, ich gebe dir eine grundlegende Einführung. Du befindest dich in der Rationalen Fundation, wir leben im System. Es ist ein neuronales Netz höchster Ordnung. Es ist so, wenn zwei Menschen sich verbinden, entsteht ein Paar. Wenn viele Menschen sich verbinden, wächst eine Gemeinschaft, und diese Gemeinschaft funktioniert auch, wenn einzelne Personen ausscheiden. Anders als bei einem Paar, das funktioniert dann nicht mehr.« Kei blickte trübsinnig in sein Bier.

»Und weiter?«, drängte Anka.

»Wenn das System einmal läuft, tritt es in eine höhere Ordnung ein. Das System wird komplex. Nur gibt es immer noch jemanden, der am Steuer sitzt, so wie der Kapitän eines Schiffes oder der Eigentümer einer Fabrik. Wenn du noch mehr Menschen und Entscheidungsebenen hinzufügst, wird das System hyperkomplex. Das heißt, es gibt niemanden mehr außerhalb des Systems, der das System am Laufen hält. Das System steuert sich von innen heraus. Dabei wächst es. Es schließt sich mit anderen hyperkomplexen System zusammen und …«

»Es wird hyperhyperkomplex«, schlussfolgerte Anka.

»Nein«, lachte Kei, »es bleibt hyperkomplex, aber es wächst. Es wird größer, so groß, dass es alles in sich einschließt und nichts außerhalb des Systems mehr besteht. Zumindest in unserem Teil der Welt ist das so seit dem Krieg.«

»Und woraus besteht das System?«, hakte Anka nach.

»Aus uns«, erklärte Kei. »Aus unseren Empfindungen, Wahrnehmungen, Erfahrungen. Bei der Geburt wirst du angeschlossen. Das System überwacht deine Körperfunktionen, um zu überprüfen, ob es dir gut geht. Wenn du krank oder verletzt wirst, lässt das System dich gratis versorgen. Bis ins hohe Alter bleiben die Bewohner der Fundation fit und sehen gut aus.« Kei schenkte Anka ein strahlendes Lächeln. »Dir ist eine Lebenszeit von hundert Jahren garantiert. Danach wirst du ausgestöpselt. Das bedeutet genau das, wonach es klingt, man wird ausgelöscht. Menschen könnten zwar durchaus hundertdreißig Jahre alt werden, doch das System hat festgestellt, dass der menschliche Verstand nicht für eine solch lange Lebensdauer ausgelegt ist. Er bekommt immer mehr Bugs und schaltet sich immer wieder ab. Daher ist die Lebenserwartung begrenzt auf hundert Jahre. Das reicht auch, finde ich. Aber frag mich in achtzig Jahren noch mal. Jeder erhält Versorgung auf Basisstufe, das schließt Essen und Trinken sowie Energie, Zugang zu Bildung, Fitness, Videos, Spielen und Schriften mit ein. Alles Weitere kannst du dir verdienen. Du musst dafür arbeiten. Einige von uns haben bessere Arbeit, andere gar keine. Das System ist fair und sorgt für jeden.«

»Also bist du ein Teil des Systems?«, fragte Anka.

»Ich bin an das System angeschlossen, nur habe ich viele Funktionen nicht eingeschaltet. Das ist unbequem, doch ich will es so. Ich muss zum Beispiel die Heizung meiner Kleidung selbst einstellen, weil ich die Temperaturkontrolle abgestellt habe.«

»Das hört sich nicht so schwer an.«

»Zu deiner Zeit gab es noch Spülmaschinen, oder?«

»Ja, gab es.«

»Und hast du trotzdem manchmal mit der Hand gespült?«

Anka dachte an ihr Studentenwohnheim. In der Spülmaschine dort wurden Weinflaschen gelagert. »Ja, habe ich.«

»Wie war das so ohne Maschine?«

Anka hob die Hände. »Okay, ich habe verstanden.«

»Glaub mir, das System nicht zu nutzen, ist unbequem.«

»Warum hast du es abgeschaltet?«

»Ich habe es nicht abgeschaltet, man kann es nicht abschalten. Ich habe nur nicht alles eingeschaltet. Ich bin ein seltsamer Vogel. Daher hat mich auch der Aushang gereizt. Eine Frau, tiefgekühlt aus der Vergangenheit, bislang ohne Kontakt zum System.« Kei schwieg.

Sein letzter Satz hing in der Luft, ohne Kontakt zum System. Scheinbar bedeutete es etwas, aber Anka verstand es nicht.

»Es gab Krieg?«, nahm sie die Unterhaltung wieder auf.

»Zweiundzwanzig Jahre lang, eigentlich waren es zwei Kriege direkt hintereinander. Es ging um Gott.«

»Erzähl mir vom Krieg.«

Kei seufzte. »Erst kämpften alle Menschen gegeneinander, dadurch entstand die Rationale Fundation und erschuf das System. Danach kämpfte die Heilige Allianz jahrelang gegen uns. Um es kurz zu machen: Wir haben gewonnen, das System hat gewonnen.«

»Was ist die Heilige Allianz?«, fragte Anka.

Kei überlegte. »Harald Harms, der berühmte Soziopsychologe des 21. Jahrhunderts, hat in seinen Schriften zum Heiligen Krieg geschrieben, dass als unverrückbares Gesetz des menschlichen Zusammenlebens gilt: Sobald ein Dritter auftaucht, wenden sich zwei zuvor zankende Subjekte einander zu und bilden eine Allianz. Genau das hat die Heilige Allianz getan. Es ist erstaunlich, was ein gemeinsamer Feind bewirken kann.«

Anka sah Kei verwirrt an.

Dieser fuhr seelenruhig fort: »Als Anschauungsobjekte dienten Harms seine drei Katzen Fluffy, Buffy und Muffy. Die Gleichnisse von Fluffy, Buffy und Muffy, die er in späteren Jahren verfasste, sind beliebte Kalendersprüche. Hier, siehst du? Der Spruch des Tages lautet: Fluffy sagt, dies ist mein Bettchen, zumindest für diesen Schlaf, danach werden wir sehen. Tiefsinnig, heh?«

Anka ärgerte sich. »Wenn tiefsinnig meint, dass ich den Sinn nicht verstehe.« Sie wollte etwas zu den Kriegen fragen, doch Kei blockte sie ab, sobald sie nur »Krr« herausbekam.

»Papapapap, das wollen wir hier nicht weiter bequatschen.« Er zwinkerte auffällig in Richtung des regenbogenfarbenen Lampenschirms auf dem Tresen. »Das ist ein privates Thema. Harms war fast hundert, als er das diktierte. Als er geboren wurde, gab es noch keine selbstbettenden Schlafanzüge.«

»Was zum Teufel soll das?«, Anka wurde ungeduldig.

»Ja, diese Schlafanzüge«, Kei ließ sich nicht beirren. »So praktisch, man braucht im Prinzip kein Bett mehr. Du ziehst sie an und sie pumpen sich an deine Körperform angepasst zu einem behaglichen Nest auf. Die Oberfläche lässt sich wenden, samtig warm oder seidig kühl, je nach Bedarf.«

Anka riss den Mund auf. »Als der Kr…«

»Stopp!« Kei hob den Finger, als lausche er einer lautlosen Melodie. Es knisterte in Ankas linkem Ohr. »Test, Test«, drang Keis Stimme in ihren Verstand, als könne ein Kopfschmerz plötzlich sprechen. »Ich mach ganz schnell, weil du das nicht kennst und panisch kreischen könntest. Ich mache es aber trotzdem. Bleib bitte ganz ruhig, schau auf meinen Finger. Ich habe ein Interface-Implantat, das erlaubt Sprachübermittlungen über eine kurze Distanz, ohne dass jemand zuhört. Als ich sagte, die Stadt hat große Ohren, meinte ich das wörtlich. Obwohl es eigentlich eher viele sind. Das System hört, was du sagst. Es sieht, was du tust und vor allem, was du nicht tust. Es heftet sich wie ein Pflaster an deinen Verstand, wenn du es lässt. Ich habe es nicht gelassen und es war schmerzhaft, ist es immer noch. Ich erkläre dir alles später. Heutzutage ist es nicht einfach, einen stillen Ort zu finden. Es gibt welche, aber der Zugang ist hochrangigen Personen vorbehalten und ich bin weder Auditor noch Creditor, noch habe ich die Credits, die so ein Zugang in der Stunde kostet. Ja, ich habe das Interface«, kam Kei ihrer Frage zuvor. »Leider ist es illegal und deswegen muss ich es jetzt abschalten und wir müssen gehen.«

»Wir müssen gehen?« Anka schaute verwundert auf ihre halbvollen Gläser.

»Ja, ich habe es zu lange angeschaltet, ich nutze es sonst nur kurz«, knisterte es noch mal. »Wir müssen weg, sofort, bevor wir aufgespürt werden«, sagte Kei, diesmal mit seinem Mund und nicht in ihrem Kopf.

Er zog sie hinaus aus der Bar, hinein in die nächste Telefonzelle. Zumindest glaubte Anka, es wäre etwas in der Art. Bevor sie sich wundern konnte, welche Daseinsberechtigung eine Telefonzelle in einer Welt, in der jeder sein Büro im Kopf spazieren trug, wohl noch haben könnte, machte es schwupp.